Der Geschäftsmann wollte nur nach Hause. Acht Stunden hatte der Flug aus Indien gedauert, doch nun verzögerten die Zollbeamten am Münchner Airport seine Heimkehr. Eine Routinekontrolle, angeblich. Personalien, Gepäck, Laptop.
Es dauerte, doch das Gewissen des Reisenden war rein; es gab nichts zu verzollen. Nur mit seinem Computer verschwanden die Kontrolleure im Nebenraum. Kurz danach Entwarnung: alles in Ordnung. Gute Heimfahrt.
Der kleine Zwischenstopp auf dem Flughafen „Franz Josef Strauß“ Mitte 2009 hat das Zeug dazu, in Berlin erneut eine Debatte über die Befugnisse von Ermittlungsbehörden zu entfachen. Es geht im digitalen Zeitalter um eine Frage, die die schwarz-gelbe Koalition im Bund spaltet: Wann und wie tief darf der Staat zur Verbrechensbekämpfung in die Computer seiner Bürger eindringen?
Denn der Kaufmann aus Bayern trug nach jener Kontrolle ein wenig mehr im Gepäck als vorher. Auf seinem Rechner hatte das bayerische Landeskriminalamt (LKA) eine Spionage-Software versteckt. Das heimlich am Flughafen installierte Programm sicherte der Polizei weitreichenden Zugriff auf den Laptop. Sobald sich das Gerät ins Internet einwählte, übermittelte es alle 30 Sekunden ein Foto des Bildschirms zu den Ermittlern – gut 60.000 in drei Monaten.
Der Fall widerlegt die gebetsmühlenartigen Beteuerungen, mit denen die Große Koalition die Infiltration von privaten Rechnern, landläufig „Online-Durchsuchung“ genannt, gegen den Widerstand von Opposition, Datenschützern und Verfassungsrichtern durchgesetzt hatte. Computer würden nur in „eng begrenzten Ausnahmefällen“ infiltriert werden, versprach der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Es gehe nicht „um die kleinen User“, assistierte der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Jörg Ziercke, sondern nur um „Fälle schwerster Kriminalität und bei Terrorismus“. Seit 2009 erlaubt das BKA-Gesetz den „verdeckten Eingriff“ in Computer, wenn „Leib, Leben oder Freiheit“ einer Person oder der Bestand des Staates in Gefahr sind. Die Bundesregierung folgte damit einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, Bayern übernahm die Formulierungen im Kern.
Doch der betroffene kaufmännische Angestellte steht weder unter Terrorverdacht, noch wird er eines Kapitalverbrechens beschuldigt. Gegen den Landshuter läuft seit 2008 ein Ermittlungsverfahren wegen „banden- und gewerbsmäßigen Handelns und Ausfuhr von Betäubungsmitteln“. Er ist in einer Firma angestellt, die Psychopharmaka vertreibt. In Deutschland legal, im Ausland möglicherweise nicht – das ist strittig. Die Polizei nutzte die Spionage-Software jedenfalls nicht zur Gefahrenabwehr, sondern um eine mutmaßliche Straftat aufzuklären.
Ausgerechnet in Bayern regiert seit 2008 die FDP mit, die sich in Sachen Online-Durchsuchung als Vorkämpferin der Bürgerrechte profiliert hat. Schon in den Koalitionsverhandlungen mit der CSU hatten die Liberalen gegen das Ausspähen von Computern gewettert. Und kürzlich beschied die bayerische Landesvorsitzende Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in ihrer Funktion als Bundesjustizministerin dem verärgerten Bundesinnenminister, mit ihr werde es keine neue Ausweitung der Anwendung von Spionage-Software geben.
„Überwachung und Aufzeichnung des Telekommunikationsverkehrs“
Wie weit das bayerische LKA die Grenze des Legalen überschritten hat, zeigt ein Blick in die Ermittlungsakte. Gegen den Pharmahändler sicherten sich die Ermittler im April 2009 zwar einen Beschluss vom Amtsgericht Landshut. Angeordnet wurden darin aber „die Überwachung und Aufzeichnung des Telekommunikationsverkehrs“, auch für Telefonate via Internet über den Anbieter Skype.
Diese Art Gespräche übers Netz lassen sich nicht durch einfaches Anzapfen der Leitung abhören, da sie verschlüsselt übertragen werden. Eine Spionage-Software fängt deshalb die Gesprächsdaten vor der Verschlüsselung ab und schickt sie an die Ermittler. Ausdrücklich untersagt hatten die Richter jedoch das Übertragen von Daten, die nichts mit Telefonaten und E-Mail-Verkehr zu tun haben – also jene rund 60 000 Fotos in der Akte.
Das Amtsgericht hielt den begrenzten Cyber-Angriff für nötig, weil eine wochenlange konventionelle Telefonüberwachung erfolglos geblieben war. Die Polizei hatte nur herausgefunden: Der Verdächtige verabredete sich per SMS regelmäßig zu Skype-Telefonaten. Die Ermittlungen stockten, weil die Beamten hier nicht mithören konnten. „Die weitere Ausforschung des Sachverhalts“, befand der Richter, sei ohne Schnüffelprogramm „wesentlich erschwert“.
Allein diese Auffassung der Landshuter Juristen ist umstritten. Als Rechtsgrundlage gilt der sogenannte Abhör-Paragraf 100a der Strafprozessordnung, der einst für herkömmliche Gespräche per Telefon gedacht war. Experten bemängeln heute, die Späh-Software manipuliere den Computer und sei laut Bundesverfassungsgericht ein „Eingriff in ein informationstechnisches System“. Ein derartiger Schritt, urteilten die Karlsruher Richter 2008, sei aber nur in gesetzlich präzise festgelegten Grenzen zulässig.
Fotos im 30-Sekunden-Takt
Doch das LKA-Programm konnte mehr, als das Amtsgericht erlaubte. Im 30-Sekunden-Takt schickte es Fotos der Skype-Oberfläche und des Internet-Browsers an die Ermittler. Die Ausspähung fiel erst auf, als der Anwalt des Beschuldigten, Patrick Schladt, Monate später in der Ermittlungsakte Fotos vom Bildschirm seines Mandanten fand.
Bedenken gegen diese Art der Ermittlung gibt es seit langem. Im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2008 waren Sachverständige skeptisch, dass sich die Skype-Überwachung tatsächlich technisch exakt auf die laufenden Gespräche begrenzen lasse. Im Bundestag hatte die Regierung auf Anfrage der FDP hingegen behauptet, es sei „von vornherein sichergestellt, dass eine über den Überwachungszweck hinausgehende Online-Durchsuchung nicht möglich ist“.
Während der Bund sich angesichts der Unsicherheiten mit der trickreichen Software auffällig zurückhielt, war in Bayern früh klar, dass die CSU das technische Werkzeug für eine Allzweckwaffe hielt. 2008 veröffentlichte die Piratenpartei einen Brief, der wohl aus dem bayerischen Justizministerium stammte. Darin wurde über den Einsatz des Spions gefachsimpelt, und im Anhang fand sich eine „Leistungsbeschreibung“. Demnach kann die Spionage-Software die Stimmen abfangen, den Chat-Verkehr, die Videos, die Kontaktliste des Computerbesitzers und Skype-SMS.
Das Programm kann sich zu vorgegebener Zeit selbst löschen und aktualisiert sich unbemerkt. Die Kosten pro Einsatz wurden seinerzeit mit 13 000 Euro angegeben, zahlbar aus dem Haushalt der Polizei. Die Ermittler erhielten die Empfehlung, sich zur Tarnung des Datentransfers einen Server in Übersee zu mieten.
Die Echtheit des Papiers wurde nie bestätigt, doch spätestens als die Staatsanwaltschaft den Webserver der Piratenpartei beschlagnahmte, um der Quelle des internen Dokuments auf die Spur zu kommen, gab es kaum mehr Zweifel. Immerhin verhinderte die bayerische FDP, dass Ermittler zum Aufspielen der Software Wohnungen betreten dürfen – daher der Flughafentrick.
„Ein massiver Eingriff in die Grundrechte“
Anwalt Schladt weiß bis heute nur ungefähr, wie der Spion auf dem Rechner seines Mandanten funktionierte. Nachdem er in der Ermittlungsakte Hinweise auf die Software gefunden hatte, bekam er Wochen später Einsicht in zwei DVDs mit den rund 60.000 Fotos. Was er beim Durchblättern sah, ist für ihn „ein massiver Eingriff in die Grundrechte“ des Beschuldigten.
Schladt legte gegen die Aktion des LKA beim Amtsgericht Landshut Beschwerde ein, doch die Richter hielten das für unbegründet. Erst das Landgericht stufte das Kopieren und Speichern der Bildschirminhalte als „rechtswidrig“ ein.
Die juristische Crux zeigt sich schon bei den E-Mails. Diese könnten, fand das Landgericht, nachdem sie vom Spähprogramm abgelichtet wurden, ja noch geändert oder gelöscht werden. Beim Schreiben einer Mail, so die 4. Strafkammer in Landshut, könne jedenfalls noch nicht „von einem Vorgang der Telekommunikation“ gesprochen werden – sondern erst beim Absenden. Das LKA will sich zu dem Fall mit Hinweis auf laufende Ermittlungen nicht äußern.
Eine Anklage gibt es bis heute nicht. Die Staatsanwaltschaft steckt in einer heiklen Lage. Wenn sie das rechtswidrig erlangte Material in das Verfahren einführt, ist erstens nicht gewiss, ob das Gericht es als Beweismittel zulässt. Und zweitens müssten die Ermittler in einer öffentlichen Verhandlung möglicherweise mehr über ihren verdeckten Cyber-Helfer preisgeben, als ihnen lieb ist.
Doch wo ist der Spion heute? Drei Monate durfte er laut Genehmigung des Amtsgerichts auf dem Laptop lauschen. Danach wurde der Computer bei einer Durchsuchung einkassiert und wanderte in die Asservatenkammer. Wenn das Programm der eigenen Leistungsbeschreibung gefolgt ist, hat es sich dort inzwischen selbst zerstört.