Pünktlich zum Ostermontag macht die Whistleblowing-Website WikiLeaks erneut Schlagzeilen. Man begann mit der seit Monaten angekündigten Veröffentlichung eines Stapels geheimer Militär-Dokumente, die Informationen über die Mehrzahl der im US-Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba internierten Menschen beinhalten. Dabei arbeitet man wieder mit einer Reihe von Medienpartnern zusammen. Die Geheimdokumente wurden, wie schon bei den vorangegangenen Leaks („Afghanistan War Logs“, „Iraq War Logs“, „Cablegate“) den Medienpartnern vorab zur Analyse zugänglich gemacht. Medienpartner sind diesmal The Washington Post, The McClatchy Company, El País, The Telegraph, Der Spiegel, Le Monde, Aftonbladet, La Repubblica, L’Espresso und der freie Journalist Andy Worthington. Wie angekündigt wurden zwei der früheren Medienpartner von WikiLeaks, der britische „Guardian“ und die New York Times, nach Streitigkeiten mit WikiLeaks-Gründer Julian Assange ersetzt. Der Spiegel, ebenfalls von Anfang an dabei, ist dagegen nach wie vor beteiligt und stellt somit das einzige deutschsprachige Medium dar, das Exklusivzugriff auf die Dokumente erhalten hat.
Die in der Bush-Ära entstandenen Dokumente – Guantanamo wurde 2002 geöffnet – beinhalten unter anderem die Risiko-Einstufung der Gefangenen. So geht daraus hervor, dass die Mehrzahl der verbliebenen 172 Häftlinge laut Einstufung ein „hohes Risiko“ hat, was bedeutet, dass man davon ausgeht, dass diese Personen bei einer Freilassung ein erhebliches Risiko für die Vereinigten Staaten darstellen würden. Medienberichten zufolge gilt das selbe für rund ein Drittel der bereits freigelassenen oder an andere Länder überstellten Häftlinge.
Einem Bericht der „Times“ zufolge sorgte zudem unsystematische und oftmals auf Intuition basierende Geheimdienstarbeit unter der Bush-Regierung dafür, dass „in Fällen von Verwechslungen oder schlichtem Pech unschuldige Männer jahrelang eingesperrt wurden“. In anderen Fällen, so schreibt WikiLeaks in seiner Pressemitteilung anlässlich des Leaks, seien „unbedeutende Taliban-Rekruten aus Afghanistan und Pakistan“ dort eingesperrt worden.
Über einen weiteren Aspekt der Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo, nämlich die verbreitete Anwendung von Foltermethoden – von damaligen Offiziellen euphemistisch als „harsche Verhörmethoden“ oder „erweiterte Verhörmethoden“ bezeichnet – ist dagegen dem momentanen Kenntnisstand zufolge wenig in den Dokumenten zu finden.
Die Dokumente umfassen laut WikiLeaks „Tausende von Seiten“ und wurden zwischen 2002 und 2008 von der „Joint Task Force at Guantánamo Bay“ (JTF-GTMO) verfasst. In ihnen finden sich Details über 758 der insgesamt 779 jemals in Guantanamo inhaftierten Personen. Darunter sollen sich auch die Akten der sieben Menschen befinden, die bislang in dem Lager starben. Die „Gefangenen-Dossiers“ enthalten unter anderem Empfehlungen für die weitere Behandlung der Gefangenen (also, ob diese freigelassen oder weiter inhaftiert bleiben sollen), medizinische Daten und weitere Informationen. In vielen Fällen finden sich auch Fotos der Gefangenen.
Viele der Dossiers beinhalten außerdem Schilderungen der Geheimdienst-Arbeit, die zur Gefangennahme des betreffenden Terrorverdächtigen führte. Auch diese Informationen dürften für viele Leser von Interesse sein, da sie Einblicke in die Arbeit der US-Geheimdienste ermöglichen. WikiLeaks-Medienpartner Andy Worthington, der die Dokumente analysiert und deren Hintergründe recherchiert hat, warnt allerdings davor, dass viele der zitierten Zeugenaussagen unter Folter oder aufgrund der Versprechung besserer Haftbedingungen entstanden sein könnten und man ihnen daher nicht uneingeschränkt Glauben schenken sollte. Auf der Website werden sogar einige Gefangene namentlich genannt, bei deren Aussagen man Worthington zufolge besondere Vorsicht walten lassen sollte. Der freie Journalist schlussfolgert: „Dies sind nur einige der offensichtlichsten Fälle, aber aufmerksame Leser werden bemerken, dass sie wiederholt in dem, was als Beweise der Regierung durchgeht, zitiert werden, und es sollte dementsprechend schwierig sein, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass die gesamte von der Regierung konstruierte Beweisführung fundamentale Schwächen aufweist, und dass das, was die Guantanamo-Dossiers enthüllen, in erster Linie die Tatsache ist, dass nur einige Dutzend Gefangene wirklich beschuldigt werden, in terroristische Aktivitäten verwickelt gewesen zu sein. Der Rest, das zeigen diese Dokumente bei gründlicher Analyse, waren entweder unschuldige Männer und Jungen, die irrtümlich gefangengenommen wurden, oder Taliban-Fußtruppen ohne Verbindung zu terroristischen Aktivitäten.“ Viele der Gefangenen seien zudem aufgrund der von den USA ausgesetzten „Kopfgelder“ an US-Truppen buchstäblich „verkauft“ worden. „Unangenehme Tatsachen wie diese werden nicht in den Überlegungen der Joint Task Force enthüllt,“ schreibt Worthington, „aber sie sind unabdingbar, um zu verstehen, wieso das, was wie eine Sammlung von Dokumenten erscheinen kann, die die Panikmache der Regierung in Bezug auf Guantanamo bestätigt, […] in Wirklichkeit das Gegenteil ist: die Anatomie eines kolossalen Verbechens, begangen durch die US-Regierung, an 779 Gefangenen, die größtenteils nicht die Terroristen sind, von denen uns die Regierung glauben machen will, dass sie sie sind, und es auch niemals waren.“
Die aktuelle US-Regierung unter Präsident Barack Obama verurteilte die Veröffentlichung der Dokumente, sagte aber gleichzeitig, das Material sei veraltet. Mittlerweile habe man die Gefangenen neu eingestuft.
Die nun veröffentlichten Dokumente sind Andeutungen von WikiLeaks-Mitarbeitern zufolge der letzte Teil einer Reihe von geheimen US-Militärunterlagen. Verdächtigt, diese weitergegeben zu haben, wird der 23-jährige Militär-Analyst Bradley Manning. Er soll dafür vor ein Militärgericht kommen.
Bislang ist nur ein Teil der insgesamt über 700 Dokumente veröffentlicht. Erst rund 100 Dokumente sind öffentlich einsehbar. Der Rest befindet sich weiterhin exklusiv in den Händen der Medienpartner. Es steht zu vermuten, dass man die selbe Strategie verfolgen wird wie bei Cablegate, also die restlichen Dokumente in Koordination mit den Medienpartnern schrittweise veröffentlichen wird.
Quelle : http://www.gulli.com/