Die Demonstranten trugen Vendetta-Masken oder ein Foto von Julian Assange vor dem Gesicht. Sie gingen in Barcelona auf die Straße, Madrid, Alicante, Valencia, Sevilla und A Coruña, aber auch in Buenos Aires, Lima und Bogotá und weiteren Städten der spanischsprachigen Welt.
Vendetta, Rache – das war auch das Motiv ihres weltweit Schlagzeilen machenden Cyber-Protests gegen die Festnahme des WikiLeaks-Chefs und Unternehmen wie Mastercard oder PayPal, die der Website die Zusammenarbeit verweigern. Ihre Masken sind ein Zitat aus einem Comic, in dem es ein maskierter Freiheitskämpfer mit dem autoritären Staat aufnimmt, ein moderner Robin Hood.
Die ersten Demos waren noch klein, ein paar Hundert Leute der spanischen Aktion Free WikiLeaks, aber sie sind das erste Signal, dass die Online-Aktivisten, die weltweit unter dem Namen Anonymous operieren, ihre Strategie verändern. ( Wikipedia hat einen lesenswerten Beitrag zur Geschichte der Gruppierung).
Die Hack-Attacken gegen die Riesen der Finanz- und Internetbranche haben ihr Ziel erreicht, in den Foren werden jedenfalls zur Zeit keine neuen Angriffsziele mehr genannt. Stattdessen versuchen die „Hacktivisten“ jetzt, das Thema noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen – zum einen durch die physische Präsenz auf den Straßen, zum anderen durch eine intensivierte Info-Kampagne.
Man wird sie in den nächsten Wochen wohl noch öfter sehen: Der Impetus des WikiLeaks-Protests hat dabei durchaus das Potential, auch Anonymous selbst zu verändern.
Cyber-Waffen für Anfänger
Begonnen hatte der Protest noch mit einer typischen Anonymous-Aktion – einer weltweit beachteten Hack-Attacke und einer speziell dafür konzipierten Software mit dem schönen Namen „Low Orbit Ion Canon“ – Ionenkanone in niedriger Erdumlaufbahn. Produziert wurde die Software, um möglichste vielen Internetnutzern die freiwillige Teilnahme an Online-Angriffen zu erleichtern, mit denen man Webserver zum Kollaps bringt. Fachbegriff: Distributed-Denial-of-Service-Attacken, kurz DDoS.
Für Vollanfänger gibt es Gebrauchsanweisungen bei YouTube: Die Cyberwaffe ist so einfach gestrickt, dass die Videos ohne Worte auskommen – Bilder reichen.
LOIC war als Werkzeug der „Operation Payback“ gedacht, die ursprünglich durchaus nicht als gezielter Protest gegen WikiLeaks-Gegner geplant war, sondern erheblich weiter gefasst. Sie sollte eine Art „Strafaktion“ gegen alle sein, die den Prinzipien von Anonymous entgegenstehen. Anfang Oktober, als die Operation ins Leben gerufen wurde, galt als Primärziel noch die Bekämpfung der Lobbyorganisationen der Entertainment-Industrien, wie Anonymous in einem seiner Videos erklärte.
Mit dem 7. Dezember – der Verhaftung von Julian Assange – setzte dann ein wahrer Run auf das LOIC-Schadprogramm ein und die Operation PayBack bekam ein neues Ziel. Denn jetzt kündigten die großen Finanz- und Internetunternehmen ihre Dienstleistungen für WikiLeaks auf – und damit präsentierten sich neue konkrete Einsatzmöglichkeiten für die bis dahin ungetestete Protest-Waffe: Kurz darauf gingen die Web-Seiten der Schweizer PostFinance, von Mastercard und Visa, Paypal und Moneybookers zeitweilig in die Knie. Allein Amazon widerstand dem virtuellen Ansturm weitgehend unbehelligt, und erst seitdem verpufft die Aktion peu à peu.
Ihr Ziel habe sie erreicht, denn der Sinn der Attacken, machte die – AnonOps genannte – Leitungsebene von Anonymous in einer Presseerklärung klar, habe immer nur darin bestanden, Aufmerksamkeit für WikiLeaks‘ Anliegen und gegen das vermeintliche Fehlverhalten der Unternehmen, gegen die virtuell protestiert wurde, zu erregen.
Die Ionenkanone: Dieses Protestwerkzeug ist eine Waffe
Mission erfüllt, sagt man da wohl in Militärkreisen: Anonymous ist so populär wie nie, das Thema WikiLeaks in allen Medien (beiden Themen widmet auch der SPIEGEL seine aktuelle Titelgeschichte). Auf über 10.000 pro Tag sei die Zahl der LOIC-Downloads gestiegen, behauptet die „New York Times“. Zehntausende von WikiLeaks-Symphatisanten sind nun ausgerüstet, jede Web-Seite mit DDoS-Attacken einzudecken, die ihr Missfallen erregt.
Spätestens, wenn man sich vorstellt, dass diese Art Equipment, mit der sich jeder Netz-Einsteiger als gefährlicher Hacker fühlen kann, nun zehntausendfach in der Internetnutzerschaft kursiert, wird die Sache zum Alptraum. Egal, ob man die Proteste über den Umgang mit WikiLeaks und Assange nun für gerechtfertigt hält oder nicht, die Verteilung virtueller Waffen, mit denen sich eine Menge Schaden anrichten lässt, ist es auf keinen Fall. Wie lange wird es dauern, bis es irgendeinem Pubertierenden einfällt, dass man mit LOIC auch dem eigenen Schulserver mal virtuell den Garaus machen könnte?
Denn natürlich sind viele, die sich im Eifer gerechten Zorns dem virtuellen Protest mit illegalen Mitteln anschlossen, minderjährig. In den Niederlanden wurde in der Nacht zum Freitag ein Junge verhaftet, den die Polizei dort für den Betreiber eines der Koordinations-Chatkanäle der Anonymous-Gruppierung hält. Der 16-jährige wäre damit Teil des erweiterten Führungszirkels der Nicht-Organisation, wenn man so will. In der Nacht zum Sonntag klickten die Handschellen dann bei einem 19-jährigen in Hoogezand-Sappemeer, der im Protest gegen die Verhaftung des 16-jährigen per LOIC die Website der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschossen hatte. Auch dies ist nur ein virtueller Schaden, der in den Niederlanden aber durchaus strafbewehrt ist: Potentiell drohen den Möchtegern-Hackern bis zu sechs Jahre Haft.
Wie geht’s jetzt weiter, Anonymous?
Offensichtlich hat Anonymous mit dem LOIC-Protest einen Geist aus der Flasche gelassen, der für die Ziele der Proteste wie für die Nutzer des vermeintlichen Protest-Tools alles andere als ungefährlich ist.
Der innere Zirkel, der Kern von Anonymous, ist der einzige Teil des nun Zehntausende Sympathisanten umfassenden Gleichgesinnten-Netzwerkes, den man als rudimentäre Organisation mit geregelter Struktur verstehen könnte. Es sind die zentralen Anon-Operatoren, Schätzungen zufolge fünf bis zehn Personen, die die zurzeit zwölf zentralen Koordinations-Kommunikationskanäle (IRC-Kanäle) betreiben.
Auch die darf man sich aber nicht als hierarchische Führungsebene vorstellen. Eine alles ordnende Struktur fehlt Anonymous bisher – sie ist der Gruppierung wesensfremd. Das ist kein Problem, so lange man in der Nische agiert. Was aber, wenn plötzlich Zehn-, wenn nicht Hunderttausende auf die nächste Entscheidung warten?
Die meisten der Koordinations-Server der Operation Payback sind zurzeit – wohl kaum zufällig – offline: Auch Anonymous steht gehörig unter Feuer, seit es sich vor WikiLeaks stellte und die Proteste seiner Anhänger so erfolgreich gegen finanzmächtige Unternehmen richtete. Dabei versteht sich die Gruppierung als eine Art Hüter der Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit – und nicht als anarchischer Sabotageverein, der unzielgerichtete Attacken sanktionierte. Anonymous beruht auf dem Prinzip, wirkungsvollen Protest zu organisieren. Nach den erfolgreichen Hack-Attacken stellt sich der Gruppierung nun natürlich die Frage: Wie weiter?
Operation leakspin: zurück zu den Wurzeln, aber mit mehr Aufwand
Die Richtung der Folgeproteste gaben die AnonOps bereits am Donnerstag vor. Im Rahmen einer „Operation leakspin“ sollten alle – ja, was: Mitglieder? Neu-Sympathisanten? WikiLeaks-Unterstützer? – ihre Energie darauf verwenden, die WikiLeaks-Quellen zu lesen, in Texten und Videos aufzuarbeiten und dann auf so vielen Wegen und Kanälen wie möglich weiter zu verteilen. Vorzugsweise auch dort, wo sich die Nutzer nicht unbedingt mit den WikiLeaks-Themen beschäftigen – zur Not getarnt als vermeintliches Justin-Bieber-Popvideo.
Das ist eine Art „Back to the Roots“, denn die Verteilung von Informationen über das Web war über Jahre die Spezialität von Anonymous. Und doch ist es anders.
Denn was jetzt an ersten Resultaten auftaucht, ist weit ernster und seriöser gestrickt, als man das bisher kannte. Und es ist erheblich mühseliger in der Produktion, als die Teilnahme an einer DDoS-Attacke. Es ist Arbeit.
Operation leakspin stellt sich als eine Art Synthese aus WikiLeaks und Wikipedia dar, Qualitätskontrolle inklusive: Wer teilnehmen will, muss Material sichten, recherchieren, seine Quellen und Ergebnisse dokumentieren, eine eigene Aufarbeitung schreiben, sich registrieren und dann noch von freiwilligen Redakteuren redigieren lassen. Klar, denn würde über diese Plattform Unsinn verbreitet, wäre die umgehend diskreditiert.
Taktisch ist das ein Schwenk vom destruktiven hin zum konstruktiven Protest.
Ob er tragfähig ist, muss man abwarten: Empörung ist kein nachhaltiger Treibstoff für Tätigkeiten, in die man mit kühlem Kopf Geduld und Arbeit stecken muss, wenn etwas dabei herauskommen soll. Vor allem aber ist das ein ziemlicher Bruch mit den bisherigen Strategien von Anonymous: Um so eine Plattform aufzubauen und zu unterhalten, braucht es Ressourcen und Strukturen. Das Ganze wirkt eher wie eine Variante des WikiLeaks-Ansatzes als wie eine Anonymous-Aktion.
Es ist, als engagiere sich die ehrenamtliche Wikipedia-Community in Sachen WikiLeaks. Die aber ist eigentlich das genaue Gegenbild von Anonymous: Ein Verein mit Strukturen, Regeln und Hierarchien.
Verändert die neue Strategie nun die Strategen?
http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,734142,00.html